Page 5 - Alsterrundschau September/Oktober 2020
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Alster Rundschau                          BERUF & KARRIERE                                                     Seite 5

                                                       „Work-Life-Balance“ adé!
             Darum dürfen Sie sich vom Modewort verabschieden!


             Mal ruhiger machen, der Freizeit mehr Raum   Was mancher als absolute Zumutung empfindet,   ben. Das bedeutet: Alle wichtigen Lebensbereiche –
           geben.  Alles schön und gut. Was aber,  wenn man   weil der ausgeübte Job einem Feindbild gleicht, das   Beruf, Familie, Gesundheit und die Frage nach dem
           die einzelnen Lebensbereiche aus Gesundheit, Ar-  man vermeintlich nur durch private Zufriedenheit aus-  Sinn, werden reflektiert, in Balance gebracht und ge-
           beit, Sinnfindung und Kommunikation ganz indi-  gleichen kann, steht für bestimmte Menschen die Arbeit   halten.
           viduell den eigenen Bedürfnissen nach priorisieren   im Lebenszentrum. Ersterer könnte die eigentliche   Die einzelnen Lebensbereiche gelten als voneinan-
           möchte? „Wer das tut, hat verstanden, dass 'Work-  Karrieremotivation daraus ziehen, seine Arbeit auf   der abhängig, beispielsweise würde sich eine einseitige
           Life-Balance' Nonsens ist“, so Johanna M. Steinke,   selbstbestimmte Art und Weise ausüben zu wollen,   Überbeanspruchung im Beruf auf die persönliche Well-
           Dipl.-Psych. und Geschäftsführerin der Coaching-  verharrt aber in einem starren Angestelltenverhältnis.   ness und Gesundheit auswirken sowie auf private Kon-
           Company COATRAIN®. Denn statt krampfhaft   Um glücklich zu sein, bräuchte er Flexibilität in Sachen   takte und Beziehungen. Konsequent wäre dann, das
           Arbeit und Freizeit ausbalancieren zu wollen, liegt   Arbeitszeit und Durchführung seiner Aufgaben. „Klar,   Berufliche in kleinen Schritten zu drosseln. „Allerdings
           die eigentliche Herausforderung im individuellen   dass ihn die Arbeit stresst und er sich in seiner Balance   nur in einem Rahmen, den man ganz individuell fest-
           „Work-Life-Management“.                 aus Arbeit und Freizeit beeinträchtigt fühlt“, weiß Jo-  steckt, nachdem man die vier Lebensbereiche einer
                                                   hanna M. Steinke.                      Ist-Analyse unterzogen hat“, so Johanna M. Steinke.
             Der ganz normale Führungskräfte-Alltagswahnsinn:   Für Letzteren steht dagegen der Beruf an erster Stel-  Im Coaching stellt sie ihren Klienten deshalb drei ganz
           „Klingelingeling“, die Uhr zeigt 05.00 Uhr,  Aufstehzeit   le, aus ihm wird Kraft geschöpft und Selbstbestätigung   entscheidende Fragen:
           der Führungskraft. Der exzessiven Stunde Frühsport   erfahren. Die „Unternehmerischen Kreativen“ fühlen   1. Welcher Lebensbereich hat für mich welche Priorität?
           folgt ein schneller Kaffee im Stehen. Dann: Abfahrt   sich also durch ihr berufliches Wirken gebraucht und   2. Wie viel Prozent meiner Energie widme ich den Be-
           ins Office, das Arbeitsende? Lange nicht in Sicht, um   wertgeschätzt. Sie vertrauen auf ihre persönlichen Fä-  reichen?
           22.00 Uhr dann schließlich wieder zuhause. „Ein   higkeiten und sind bereit Risiken einzugehen, Chancen   3. Wie gut spiegelt mich derzeit meine Gewichtung
           Graus!“, „Unzumutbar“, „Der geht daran zu Grunde“,   zu nutzen und Hindernisse zu überwinden, wenn es   wider?
           hört man es aus dem Off schallen. Doch ist dem wirk-  darum, geht mit einem eigenen Unternehmen durchzu-  Darauf folgt die Soll-Analyse, die dem Coachee
           lich so?                                starten. „Der Job gibt diesen Menschen genau das, was   abzuschätzen hilft, wie viel Zeit und Energie er einzel-
             Die einen so, die anderen so, denn: Was die Vorstel-  sie zum Glücklichsein brauchen“, ergänzt Johanna M.   nen Lebensbereichen widmen möchte und wie diese
           lungen vom Berufsleben betrifft und die Rolle, die man   Steinke. Der berufliche Stress wird alles in allem als   besser von ihm in Balance gebracht werden können.
           darin spielt, ist bei jedem Menschen einzigartig. Was   positiv empfunden, das Aufzwängen der seit den 90ern   „Dem Coachee wird dabei bewusst, welchem Lebens-
           jedoch allen gemein ist und für dieses Selbstkonzept zu   propagierten „Work-Life-Balance“, sich zugunsten der   bereich mehr und welchem vielleicht etwas weniger
           Grunde liegt, sind acht unterschiedlich stark gewichte-  Freizeit in punkto Karriere zurückzunehmen, dagegen   Raum zustehen soll“, so Johanna M. Steinke.
           te identitätsbildende Karrieregrundmotive, die spiel-  als Druck. Mit der so genannten „Work-Life-Balance"   Für die eingangs erwähnte Führungskraft mag eine
           entscheidend dafür sind, wie man sich privat und be-  sorgt man bei einem „Unternehmerischen Kreativen“   andere prozentuale Aufteilung seiner Lebenszeit auf
           ruflich aufstellt. Dazu zählen „Funktionskompetenz“,   durchaus für eine Zusatzbelastung. Nämlich seine Zeit   die vier unterschiedlichen Bereiche richtig sein als für
           „General Manager“, „Kleine Selbständigkeit“, „Siche-  gerecht auf zwei sich scheinbar ausschließende Lebens-  die in Teilzeit arbeitende junge Mutter. Oder den Nine-
           re Beständigkeit“, „Der kreative Unternehmer“, „Lei-  bereiche aufteilen zu müssen, ob er will oder nicht.  to-Five-Verfechter, der stets pünktlich zur Tea-Time
           denschaft für eine Idee“, „Challenge“ und „Work-Life-  Dabei ist genau die Frage des persönlichen Wollens   seinen Stift fallen lässt. Während beim General Mana-
           Balance“. Das Ranking dieser Motive gestaltet sich   die entscheidende Antwort auf das über einem schwe-  ger Arbeit an erster Stelle steht und die anderen Lebens-
           spezifisch, meist stechen zwei bis drei hervor und sind   bende Damoklesschwert namens „Work-Life-Balance“.   bereiche als weniger relevant eingestuft werden, ver-
           besonders prägend für das persönliche Berufsleben.   Wer sich von ihm „bedroht“ fühlt, dem hilft es, die   sucht die Working Mum ihre Zeit zwischen Familie und
           Johanna M. Steinke erklärt: „Das Selbstkonzept wirkt   Definition von „Work-Life-Balance“ aus seinem Kopf   Job hin und her zu jonglieren. Ihr hauptsächliches
           leitend, aber beschränkt auch die Wahlmöglichkeiten.   zu streichen und sich stattdessen auf ein ganzheitliches   Karrieregrundmotiv, die Lebensstilintegration. Und der
           Es hilft, zu identifizieren, was meins ist und was eben   „Work-Life-Management“ zu besinnen, dessen Ziel es   Teetrinker? Ihm werden zuverlässige Arbeitszeit und
           nicht“.                                 ist, den Gegensatz von Beruf und Privatleben aufzuhe-  Lohn wichtiger sein als die Karriereleiter.
                                                                                           3 Fragen an Johanna M. Steinke


                                                                                           1. Welches Ziel verfolgt „Individuelles Work-Life-
                                                                                           Management“?
                                                                                           Herauszufinden, was für diesen Menschen, mit dem
                                                                                           ich gerade arbeite, das Wichtigste ist, anstatt alle durch
                                                                                           das Nadelöhr dieser einen Herangehensweise zu be-
                                                                                           handeln und damit „Work-Life-Balance“ als Ideologie
                                                                                           zu erheben.
                                                                                           2. Wie kann eine Veränderung eingeleitet und ge-
                                                                                           staltet werden?
                                                                                           Über individuelle Einzelcoaching-Prozesse oder eine
                                                                                           Weiterbildung wie zum Professional Coach, um sich
                                                                                           zu hinterfragen und darüber klar zu werden, was ich
                                                                                           bin, was mich ausmacht, wo ich stehe und hin möchte.
                                                                                           3. Woran lässt sich erkennen, spüren, wahrnehmen,
                                                                                           dass eine andere Priorisierung der Lebensbereiche
                                                                                           eingetreten ist?
                                                                                           Mitunter unreflektierter Konsum, innere Unzufrie-
                                                                                           denheit, Wahrnehmen von Druck, nur noch schnell im
                                                                                           Job alles fertigmachen, damit man das Eigentliche tun
                                                                                           kann.
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